Wer hätte das gedacht? Ausgerechnet Mario Götze, der am häufigsten kritisierte deutsche Turnierspieler, schießt Deutschland im hart umkämpften Finale gegen Argentinien mit einem Traumtor in der 113. Spielminute zum WM Titel, …um dann in einer bezeichnenden Geste für das im deutschen Team grossgeschriebene WIR, den verletzt abwesenden Marco Reus am Sieg teilhaben zu lassen, indem er das Trikot mit seinem Namen trägt.
Während Experten noch über dem historischen 7:1 Halbfinalsieg gegen Gastgeber Brasilien rätseln, steht fest: Deutschlands Fußball hat sich verändert, und zwar grundlegend und tiefgreifend. In einem jüngst veröffentlichten Artikel der Huffingtonpost analysiert Otto Scharmer, Gründer des Presencing Instituts, diese Entwicklung sinngemäß so:
Vor zehn Jahren begannen Klinsmann und Löw eine Revolution im deutschen Fußball – eine Transformation der Führungskultur, sowohl auf als auch außerhalb des Fußballrasens. Der deutsche Fußball ist im Vergleich zum ergebnisorientierten Spiel vor den Weltmeisterschaften 2010 und 2006 nicht wiederzuerkennen. Das deutsche Team hat keinen auserkorenen Spielführer oder Superstar…stattdessen spielen sie einen dezentralen und fließenden Führungsstil. Das Team hat auch keine perfekte Startelf…stattdessen passen sie flexibel ihre Aufstellungen und Positionen den Spielbedingungen an.
Was treibt diesen sensationellen Erfolg? Als Change Leadership Experten nennen wir diesen Entwicklungsschritt „Sich selbst entwickelnde Teams“ – Chef-Trainer bzw. Unternehmensleiter mit eingeschlossen. Um bei Scharmer’s Analogie zu bleiben: In diesem Entwicklungsstadium operieren alle Teamspieler von einer geteilten Aufmerksamkeit und Verantwortung für ein sich entwickelndes Ganzes. Jeder Einzelne muss, damit der Ball rollt, immer das gesamte Spielfeld im Auge haben – die wechselnden Positionen, die entstehenden Räume im eigenen wie im gegnerischen Feld sowie die ganze Dynamik zwischen Spielern, Schiedsrichtern, der Trainerbank und dem Publikum. Die „führerlose Führung“ macht es möglich, Pässe so schnell und intuitiv zu spielen, dass der Gegner sie nicht erfassen, geschweige denn darauf reagieren kann.
Diese Art des Zusammenspiels entsteht nicht von selbst und nicht über Nacht. Es brauchte zehn Jahre und eine Art menschliche Symbiose in einem sich entwickelnden Team von Spielern, Trainern und Betreuern. In der Beziehung der Stammspieler von 2006 Miroslaw Klose, Lukas Podolski und Bastian Schweinsteiger mit dem Bundestrainer Joachim Löw lebt für mich diese Qualität individueller Stärke und Hingabe an eine geteilte Zukunftsvision. Schweinsteiger’s Aussage vor dem Finalspiel: „Der intelligenteste Trainer wird den Titel gewinnen!“ zeugte von Vertrauen, Demut und Reife.
Die Ursachen für so einen Erfolg liegen in der Qualität des Denkens und Handelns für einen gemeinsamen Entwicklungsprozess. Unsere Aufmerksamkeit von getrennten Teilen unserer Wahrnehmung auf ein dynamisches Ganzen zu lenken, ist dabei nicht nur als fußballerische Teamleistung gefragt. Vor der Herausforderung einer solchen Transformation in der Art unserer Zusammenarbeit stehen wir in fast allen gesellschaftlichen Bereichen.
Meine persönlichen Erfahrungen aus verschiedenen Change Leadership Projekten in Wirtschaftsunternehmen bestätigen das: Mehr als Prozesse und Strategien zu optimieren, geht es heutzutage darum, das Bewusstsein zu schaffen, über Abteilungsgrenzen, Hierarchien, Silos und persönliche Barrieren hinwegzugehen und den Blick auf das Ganze zu schärfen. Erfolg wird in Zukunft immer mehr davon abhängen, wie schnell sich Teams weiterentwickeln und auf einem höheren Leistungsniveau zusammenarbeiten.
Trifft den Nagel auf den Kopf, lieber Steffen,
herzlichen Dank für diesen Artikel! Im stimmlichen Bereich geht es auch um Bewußtsein, Grenzerweiterung und ein dynamisches Ganzes , eine immer neu werdende Präsenz!
Vertrauen in eine Vision…eine gemeinsame Vision…
Stimmige Grüße
Sieglinde
Sehr schöne Analyse. Allerdings es muss auch gesagt werden, dass WIR Weltmeister geworden sind, weil der Argentinier Palacio in der 97 den Ball nicht ins Tor geschossen hat, sonder Götze 15 Minuten später. Alle schönen Dinge, wie Teamgeist und Entwicklungsprozess sind ultimate Ursachen. Fragen wir uns jetzt in aller Ruhe: was wäre dann, wenn Palacio das Tor gemacht hätte?? Sorry, ich weil die Party nicht verderben, aber diese identitätsstiftinden Selbstbilder der Heroisierung nichts mit Rationalität zu tun haben. Wir sind Weltmeister und das ist gut so. Ohne warum und weshalb!! Denken Sie an Palacio!!!
Die Darstellung ist vielleicht etwas heroisierend geschrieben – aber im Kern richtig. Es geht dabei gar nicht um das letzte Tor, sondern um die andere Art, Fußball zu spielen, die Deutschland hier zeigt. Das hier geschriebene würde genauso gelten, wenn Argentinien schließlich am Ende das erste Tor gemacht hätte oder ein Elfmeterschießen zu Gunsten Argentiniens ausgegangen wäre. Der gezeigte Fußball hatte eine völlig andere Dimension als frühere Auftritte. Als nur mäßiger Fußballfan sehe ich selten Spiele. Bei dieser Weltmeisterschaft war ich froh, das Erste gesehen zu haben.
Die Selbstorganisation fiel mir sofort auf und begeisterte mich – danach habe ich alle Spiele Deutschlands gesehen, um das weiter analysieren zu können. Meine Ergebnisse sind im Hauptbeitrag hervorragend zusammengefasst.
Ja, der Ausgang des Endspiels kann der positiven Einschätzung des deutschen Fußballs nichts anhaben. Ich erinnere mich noch an die WM 2002 und wie beschämt ich war vom Auftreten der deutschen Mannschaft – trotz Endspielteilnahme!
Es ist leicht, aus der Siegeseuphorie zu viel zu machen, aber ihre Analyse hier trifft. Danke.